Natur entdecken mit Wetzlar geht Waldwärts

Die Kinder des Wetzlarer Jugendzentrums Girmeser Villa erkunden mit der NAJU das Frühlings- erwachen und sehen es buchstäblich durch andere Augen. Ein ganz besonderer Nachmittag.

Es ist der Dienstag nach Ostern, und weil Ferien sind, trudeln die Kinder nur langsam ein in der Girmeser Villa, einem der vier Jugendzentren, die zur Abteilung Kinder- und Jugendbildung der Stadt Wetzlar zählen. Dieses liegt im Norden, zwischen Lahn und Steinbruch. Jonas Demann, der das NAJU-Projekt „Wetzlar geht waldwärts“ leitet, wartet schon mit einem vollgepackten Rucksack und einem Plan. Dass es in die Natur geht, das ahnen die Kinder. Doch was genau auf sie wartet, das dürfen sie nun selbst herausfinden.

Feuerwanzen und Apfelschorle

„Seit April 2022 gibt es dieses Projekt, an dem sich Kinder aus den Jugendzentren der Stadt beteiligen können“, erklärt Jonas, während er den Inhalt seines Rucksacks auf dem Billardtisch ausbreitet: Becherlupen, Jutebeutelchen, Augenbinden. Da das Angebot offen und ohne Anmeldung sei, wisse man nie, wie viele und welche Kinder kämen. Manche kommen aus Interesse an der Natur, viele entdecken es beim Mitmachen. Im Gepäck hat der 29-jährige auch seine NAJU-Insekten-Büchlein und Bestimmungskataloge. „Beim letzten Ausflug mit dem Jugendzentrum Westend waren fast 20 Kinder dabei. Das Highlight waren die Feuerwanzen, die sie selbst bestimmt haben“, erzählt er und klingt dabei so, als sei sein eigener Entdeckergeist mindestens so groß wie der der 7- bis 14-Jährigen, die bereits vor der Villa warten, mit Apfelsaftschorlen versorgt und die Kapuzen hoch geschnürt.

Wie fühlt sich Natur an?

Jonas begrüßt die kleine Runde mit einem Kennenlern-Spiel. Alle sagen ihren Namen und ein Tier mit identischem Anfangsbuchstaben. Nach Jonas Jaguar stellt sich Maja Murmeltier vor, eine Freiwillige der NAJU, heute in der Rolle der Fotografin. Es folgen Elpida Elefant, Marina Maus, und so geht es einmal die Runde und dann schnurstracks Richtung Lahn, geradeaus durch die Kleingartenkolonie. Ein paar Sonnenstrahlen schieben sich an dicken Schafswolken vor- bei, und die Kinder quieken, als sich eine Hummel kurz zwischen ihnen verirrt.

Keine zehn Minuten später erreichen sie das Ziel, den Park nördlich der Lahn, den Sofia Schlange mal eben „Villapark“ tauft, weil er bisher keinen Namen besaß. Jonas leitet das zweite Spiel an, und schon tapsen die Kinder in Zweiergruppen davon, eins mit Augenbinde ein wenig stolpernd vorweg, ein zweites stabiles als Führer*in hintendran. Marina führt Elpida über eine Wiese hin zu einer Buche. Elpida tastet mit beiden Händen den Stamm ab, ruft: „Ok!“, und dann tapsen sie zurück zum Startpunkt. „Wie hat es sich angefühlt?“, fragt Jonas. „Kratzig“, sagt Elpida, die „ihren“ Baum nun wiederfinden soll. Sie schafft es auf Anhieb. Dann tauschen die Mädchen.

 

Becherlupen-Spaß

Nach dem Fotospiel, bei dem ein Kind die Funktion einer Kamera einnimmt und das andere das schönste Motiv sucht, kommen die Becherlupen zum Einsatz. Sofia schöpft einen fadendünnen Wurm aus dem Teich und hält ihn Sozialarbeiterin Celine Chinchilla unter die Nase. „Wow, das hast du zwischen den Algen gesehen?“, fragt Celine.

Plötzlich bildet sich eine Traube um Marina, die ihre Becherlupe hochhält. Wie auf Kommando rennen die Kinder dem Mädchen hinterher über eine Wiese hin zu einem alten Ahorn und drücken ihre Becher auf die Rinde. Marina hat ihren Inhalt wie- der frei gelassen und lässt die drei rotgestreiften Wanzen über ihre Hand krabbeln. Ganz achtsam bewegt sie sich, damit die Insekten nicht abstürzen.

Jonas hat im Bestimmungsbuch schon die Seite mit der Feuerwanze aufgeschlagen. Dem Umweltpädagogen liegt Nachhaltigkeit am Herzen, und er engagiert sich ehrenamtlich für Umweltschutzprojekte. Für die NAJU möchte er bald noch mehr anbieten und freut sich deshalb über die bestehende Kooperation mit den Jugendzentren. „Es gibt ein paar Jugendliche, die schon nach mir fragen, und mit einigen älteren Kochbegeisterten möchte ich bald Wildkräuter sammeln und in der Küche verarbeiten.“

Basteln mit Naturmaterialien

Als alle Wanzen befreit sind, sammeln die Teilnehmenden Naturmaterialien, die sie der Kategorie „spitz“ zuordnen. „Ist das spitz?“, fragt Alpi Affe, dessen Hose inzwischen vom Schlamm wie Camouflage anmutet. Er packt ein Stöckchen in seinen Beutel und wartet auf die nächste Anweisung. „Sucht etwas Weiches!“, ruft Jonas gegen den Wind, der allmählich in die Glieder kriecht. Nach weiteren Kategorien, „grün“, „nicht aus der Natur“ und „schön“, sind alle Beutel voll, und die Kinder rennen im Wettlauf durch die Kleingärten zurück zum Jugendzentrum.

Die rotwangigen Naturkundler*innen kippen ihre Beutelinhalte auf dem großen Tisch aus, um bunte Karten aus Pappe damit zu verzieren. Marina hat auf dem Weg sogar eine Kornblume gefunden. Alpi malt mit dem Filzstift lauter Herzen auf die Rückseite der selbst gebastelten Karte. So- bald er nach Hause kommt, möchte er sie seiner Mama schenken. Denn noch leuchten die Materialien: Löwenzahn und Schöllkraut in sattem Gelb und komplementär drei blaue Wald-Veilchen-Blüten, die der Grundschüler sorgsam vom Stiel trennt und auf dem Deckblatt arrangiert. Ein letzter prüfender Blick, und dann rennt er hinaus auf den Hof, um mit den Kindern, die schon fertig gebastelt haben, zu kicken.

Gewiss wird das Strahlen der Karten schneller vergehen als der Frühling. Die Erinnerungen an diesen Tag hingegen werden vermutlich noch lange lebendig bleiben.

Text: Sarina Hunkel
(Ursprünglich veröffentlicht in der Naturschutz Heute 02/2023)